Vektoren und Vektorräume
- Was ist ein Vektor?
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Auf die Frage, was denn ein Vektor sei, kennen Sie sicher verschiedene Antworten:
- Vom Geometer: Vektoren sind Pfeile
- Vom Physiker: Vektoren haben, im Unterschied zu Skalaren, nicht nur eine Größe, sondern auch eine Richtung
- Vom Algebraiker: Vektoren sind reelle Zahlentupel
\( (x_1, x_2, \dots, x_n) \)
Diese Vorstellungen sind im Detail unterschiedlich und nicht ganz leicht zu präzisieren.
- Wie kann man mit Vektoren rechnen?
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Auf die Frage, wie denn mit Vektoren zu rechnen sei, gibt es dagegen eine einheitliche Antwort.
Allen unterschiedlichen Vorstellungen von Vektoren gemeinsam ist, dass man- den Summen-Vektor zweier Vektoren bilden kann
- das Vielfache eines Vektors bilden kann
- diese beiden Operationen die (bereits von Zahlen) bekannten Rechenregeln erfüllen
Der abstrakte Vektorraum
Deshalb stellen wir das allen Gemeinsame an den Anfang, und definieren den abstrakten Vektorraum. Die Definition präzisiert das oben über das Rechnen mit Vektoren Gesagte.
Definition des Vektorraums
Ein (reeller) Vektorraum
- Kommutativität der Addition — Reihenfolge der Summanden spielt keine Rolle
\[\vec{v} + \vec{w} = \vec{w} + \vec{v} \quad \forall \vec{v}, \vec{w} \in V \] - Assoziativität der Addition — Klammern spielen bei der Summation keine Rolle
\[ \vec{u} + (\vec{v} + \vec{w}) = (\vec{u} + \vec{v}) + \vec{w} \quad \forall \vec{u}, \vec{v}, \vec{w}, \in V \] - Existenz des Nullelementes der Addition
\[\exists \vec{0} \in V \text{, so dass: }\;\vec{v} + \vec{0} = \vec{v} \quad \forall \vec{v} \in V \] - Existenz des inversen Elementes der Addition
Für jedes Element
\(\vec{v} \in V \) gibt es ein inverses Element\(\vec{w} \in V \) , so dass:\( \vec{v} + \vec{w} = \vec{0} \) Man schreibt das zu
\( \vec{v} \) inverse Element meist als\(- \vec{v}\;\) .- Assoziativität der Multiplikation mit reellen Zahlen — Klammern sind bei der Vielfachenbildung überflüssig
\[ \alpha (\beta \vec{v}) = (\alpha \beta) \vec{v} \quad \forall \vec{v} \in V,\; \forall \alpha, \beta \in R\] - Distributivität — Verträglichkeit von Addition und Bildung des Vielfachen
\[\alpha (\vec{v} + \vec{w}) = \alpha \vec{v} + \alpha \vec{w} \quad \forall \vec{v}, \vec{w} \in V,\; \forall \alpha \in R \] \[ (\alpha + \beta) \vec{v} = \alpha \vec{v} + \beta \vec{v} ,\; \forall \alpha, \beta \in R \] - Für die reelle Zahl Eins gilt
\[ 1 \vec{v} = \vec{v} \quad \forall \vec{v} \in V\]
Was ist dann ein Vektor? Die Antwort auf diese Frage ist genauso überraschend wie einfach.
Definition eines Vektors
Ein Vektor ist ein Element eines Vektorraums.
Vektoren sind also über die möglichen Rechenoperationen, nicht über eine konkrete Bedeutung definiert: Es kommt nur darauf an, was ich mit ihnen anstellen kann, nicht was sie sind. Diese abstrakte Sicht hat einen unschätzbaren Vorteil: alles, was Sie über die Addition von Pfeilen wissen, lässt sich direkt auf andere, weniger anschauliche Vektoren übertragen.
Sie dürfen sich im Folgenden gerne Geschwindigkeits-Vektoren vorstellen, dabei aber nicht vergessen, dass alles, was über die Möglichkeit diese zu addieren und Vielfache zu bilden hinausgeht, ohne Bedeutung ist. Vektoren haben keine Richtung, sind keine Pfeile, haben keine Länge (darüber wird noch zu sprechen sein), sie schmecken nicht nach Apfeleis, sie sind nicht aus gebürstetem Edelstahl. Kurz gesagt: Es kann uns völlig egal sein, was sie sind, solange man nur mit ihnen wie in der Definition des abstrakten Vektorraums, den Vektorraumaxiomen, beschrieben rechnen kann.
Ein konkreter Vektorraum: der \(\color{#005A9C}{R^n}\)
Geht es auch weniger abstrakt? Aber sicher doch! Man startet mit Größen, die — zumindest für Mathematiker oder theoretische Physiker — eine konkrete Bedeutung haben, definiert Rechenoperationen für diese Größen und prüft die Rechenregeln nach.
Die bekannteste und wichtigste Konkretisierung des abstrakten Vektorraums ist der
- Definition der Menge
- Die Elemente der Menge sind die geordneten n-Tupel reeller Zahlen:
\( \left(\matrix{\alpha_1\cr\alpha_2\cr\vdots\cr\alpha_n} \right)\,, \quad \alpha_i \in R \) .Geordnet bedeutet, dass man bei den n-Tupeln — anders als bei Mengen — das erste, zweite, ... , n-te Element eines n-Tupels unterscheiden kann. Deshalb sind z.B. die beiden 2-Tupel
\( (3, 5) \) und\((5,3) \) ungleich:\( (3, 5) \ne (5,3) \) . - Definition der Rechenoperationen
- Addition und Multiplikation mit einer reellen Zahl
\(\lambda\in R\) sind komponentenweise definiert:\[ \left(\matrix{\alpha_1\cr\alpha_2\cr\vdots\cr\alpha_n} \right) + \left(\matrix{\beta_1\cr\beta_2\cr\vdots\cr\beta_n} \right) = \left(\matrix{\alpha_1 + \beta_1 \cr\alpha_2 + \beta_2 \cr\vdots\cr\alpha_n + \beta_n } \right) \;,\qquad \lambda \,\left(\matrix{\alpha_1\cr\alpha_2\cr\vdots\cr\alpha_n} \right) = \left(\matrix{\lambda\,\alpha_1\cr\lambda \, \alpha_2\cr\vdots\cr\lambda \, \alpha_n} \right) \] - Nachprüfen der Rechenregeln
- Der Nachweis, dass in dem konkreten Fall des
\(R^n\) die Vektorraumaxiome erfüllt sind, ist einerseits natürlich notwendig, andererseits offensichtlich. Für die reellen Zahlen gelten die Rechenregeln, für die n-Tupel sind die Rechenoperationen komponentenweise definiert.
Wo bleibt die Physik?
Geordnete n-Tupel reeller Zahlen sind offensichtlich mathematische, keine physikalischen Größen.
In den physikalischen Anwendungen haben die Vektoren eine konkrete, physikalische Bedeutung als Geschwindigkeitsvektoren, Kraftvektoren, Vektoren der elektrischen Feldstärke — um nur einige Beispiele zu nennen. Trotzdem wird uns der
Lessons learned
Man unterscheidet den abstrakten Vektorraum und seine Konkretisierungen.
- Wie rechnet man mit Vektoren?
\(\leadsto \) Der allgemeine, abstrakte Vektorraum- Was bedeuten die Vektoren?
\(\leadsto \) Eine Konkretisierung des abstrakten Vektorraums