Absolut, relativ, invariant

Houston — wir haben ein Problem

Kommen wir noch einmal auf die uns vertrauten Koordinaten-Tupel zurück, die, mit denen sich so leicht rechnen lässt. Sie kommen in beiden Sichtweisen vor: in der herkömmlichen Sicht stehen sie sogar gleich am Anfang, in der modernen erhält man sie durch Wahl einer Basis.

In beiden Sichten ist klar, dass die Wahl eines Koordinaten-Tupels zur Darstellung eines bestimmten Vektors willkürlich ist. Durch einen Wechsel der Basis wird derselbe Vektor durch ein anderes Zahlen-Tupel dargestellt.

Angesichts dieser Willkür stellt sich die natürlich Frage, was denn die wunderschönen Ergebnisse, die wir mit den Koordinaten-Tupeln berechnen, über die Vektoren selber aussagen. Die Antwort wird sein: unter Umständen gar nichts. Also erst denken — dann rechnen, oder eben nicht.

Die gleiche Frage, nämlich was wir den Koordinaten-Tupeln glauben dürfen, werden wir uns nicht nur jetzt für die langweiligen Vektorräume stellen, sondern später auch für die interessanteren Euklidischen Räume und die physikalische Raumzeit. Zunächst ein ganz einfaches, aber lehrreiches Beispiel.

Beispiel

Wir betrachten einen 2-dimensionalen Vektorraum \(V\) und wählen eine Basis \(\vec{v}_1\), \(\vec{v}_2\) von \(V\).

Bezüglich der gewählten Basis werden alle Vektoren aus \(V\) durch ihre Koordinaten-Tupel dargestellt. Nehmen wir konkret die beiden Koordinaten-Tupel

\( \left( \matrix{3 \cr 1} \right) \) und \( \left( \matrix{1 \cr 1} \right) \)

Aussagen über Zahlen-Tupel

Über diese Zahlen-Tupel können wir nun die folgenden drei Aussagen machen:

  1. Ihre Differenz beträgt \[ \left(\matrix{3\cr 1} \right) - \left(\matrix{1\cr 1} \right) = \left(\matrix{2\cr 0} \right) \]
  2. Die zweite Komponente ihrer Differenz \( \left(\matrix{2\cr 0} \right)\) ist gleich Null.
  3. Die Länge des Zahlen-Tupels \( \left( \matrix{3 \cr 1} \right)\) beträgt \( \sqrt{3^2 + 1^2}\), also \(\sqrt{10}\).

Die Frage ist, was diese Aussagen für die Vektoren selbst, also nicht die Zahlen-Tupel, bedeuten.

Aussagen über Vektoren: moderne Argumentation

In der modernen Sicht kennen wir explizit den Vektorraum \(V\) und die Basis \(\vec{v}_1\), \(\vec{v}_2\) von \(V\). Wir rekonstruieren — mit Hilfe der Basis — aus den beiden Koordinaten-Tupeln und ihrer Differenz die entsprechenden Vektoren \(\vec{s},\; \vec{t},\; \vec{d}\) in \(V\)

\[ \vec{s} = 3 \vec{v}_1 + \vec{v}_2 ,\quad \vec{t} = \vec{v}_1 + \vec{v}_2 ,\quad \vec{d} = 2 \vec{v}_1 \]

Was bedeuten die drei Aussagen über die Koordinaten-Tupel für die Vektoren \(\vec{s},\; \vec{t},\; \vec{d}\) ?

  1. Der Vektor \(\vec{d}\) ist die Differenz der Vektoren \(\vec{s}\) und \(\vec{t}\).

    \begin{align} \vec{s} - \vec{t} &= \cssId{der1Step1}{3 \vec{v}_1 + \vec{v}_2 - (\vec{v}_1 + \vec{v}_2 ) }\\ &=\cssId{der1Step2}{2 \vec{v}_1 }\\ &=\cssId{der1Step3}{\vec{d}}\\ \end{align}

    Die erste Aussage über die Koordinaten-Tupel hat also eine basisunabhängige, absolute, Bedeutung; als Beziehung zwischen den rekonstruierten Vektoren selbst.

    Das überrascht Sie natürlich nicht: lineare Struktur auf \(V\), lineare, invertierbare Abbildung \(\Phi: V \mapsto R^2\). Das passt schon. Gefühle dieser Art zu entwickeln ist wichtig und hilfreich …

  2. Die zweite Aussage über die Koordinaten-Tupel hat nur eine Bedeutung relativ zur gewählten Basis. Sie bedeutet, dass bei der Entwicklung des Vektors \(\vec{d} \in V \) nach der Basis \(\vec{v}_1, \vec{v}_2\) der zweite Entwicklungskoeffizienten gleich Null ist:

    \[ \vec{d} = 2 \;\vec{v}_1 + \color{#b75130}{0} \; \vec{v}_2\]

    Ohne Bezug zur Basis \(\vec{v}_1, \vec{v}_2\) bleibt nichts übrig: Vektoren aus \(V\) haben keine Komponente: weder eine erste noch eine zweite. Oder können Sie allein mit den Worten Addition und Vielfaches erklären, was die Komponente eines Vektors ist? Wenn Ihnen das Wort Basis über die Lippen kommt ist das Spiel aus — und Sie zahlen 5 € ins Schwein. Zum Frustabbau versuchen Sie es mit dem Begriff Differenz statt Komponente.

  3. Auch der dritten Aussage über das den Vektor \(\vec{s}\) darstellende Koordinaten-Tupel entspricht keine Eigenschaft des Vektors \(\vec{s}\) selbst. Die mit der bekannten Formel berechnete Länge ist die Standard-Länge des Zahlen-Tupels im \(R^2\), nicht die des Vektors aus \(V\). Auf dem Vektorraum \(V\) fehlen uns wieder die Worte. Über diese Sprachlosigkeit wird in Bälde noch zu reden sein!

    Auch diese Aussage über ein Koordinaten-Tupel hat also keine absolute Bedeutung als Eigenschaft des rekonstruierten Vektors selbst.

Aussagen über Vektoren: herkömmliche Argumentation

Die Spannung ist jetzt natürlich raus. Schauen wir trotzdem, wie wir in der herkömmlichen Sichtweise feststellen können, ob eine Aussage über Koordinaten-Tupel eine basisunabhängige Bedeutung für die Vektoren selbst hat.

Die einfache Rekonstruktion der Vektoren ist in dieser Sicht — leider — nicht möglich: Der Vektorraum und seine Basis wabern nur unfassbar im Hintergrund. Das Einzige was wir haben, ist das Transformationsverhalten der Koordinaten-Tupel beim Wechsel der Basis: wenn die Basistransformation durch die invertierbare Matrix \(A\) beschrieben wird, dann transformieren sich die Koordinaten-Tupel mit der Matrix \((A^{-1})^{\text{T}}\).

Wir müssen also überprüfen, was von den drei Aussagen über die Koordinaten-Tupel nach einem Basiswechsel übrig bleibt.

  1. Die Differenz der transformierten Koordinaten-Tupel ist das transformierte Koordinaten-Tupel der Differenz der ursprünglichen Koordinaten-Tupel.

    \begin{align} (A^{-1})^{\text{T}} \left(\matrix{3\cr 1} \right) - (A^{-1})^{\text{T}} \left(\matrix{1\cr 1} \right) &\texttip{=}{Die Anwendung der Matrix auf Vektoren ist linear} \cssId{der2Step1}{ (A^{-1})^{\text{T}} \left( \left(\matrix{3\cr 1} \right) - \left(\matrix{1\cr 1} \right) \right) }\\ &=\cssId{der2Step2}{ (A^{-1})^{\text{T}} \left(\matrix{2\cr 0} \right) }\\ \end{align}

    Die Gleichung zwischen den Koordinaten-Tupel stimmt also nicht nur für die ursprünglichen Zahlen-Tupel, sondern auch für alle transformierten: die Gleichung ist invariant unter allen Basistransformation. Deshalb ist es eine Beziehung zwischen den Vektoren selbst, eine so genannte Vektorgleichung.

  2. Das Verschwinden der zweiten Komponente des Koordinaten-Tupels ist zufällig, nur der speziellen Wahl der Basis geschuldet. Es ist nicht invariant unter allen Koordinaten-Transformationen, also keine Eigenschaft des Vektors selbst.

    Eine Basistransformationen als Beispiel: die Eigenschaft überlebt das Vertauschen der beiden Basisvektoren, beschrieben durch die Matrix \(A = \left( \matrix{0 & 1\cr 1 & 0} \right) \), nicht.

  3. Die Formel zur Berechnung der Standard-Länge des Koordinaten-Tupels liefert für ein transformiertes Koordinaten-Tupel im Allgemeinen einen anderen Wert. Je nach Wahl der Basis ergeben sich also unterschiedliche Längen des Koordinaten-Tupels — nichts, auf dass man sich unter gleichberechtigten Basen einigen könnte. Das heißt aber, die Vektoren selbst haben gar keine Länge.

    Als Beispiel betrachten Sie die Basistransformation, die durch die Matrix \(A = \left( \matrix{2 & 0\cr 0 & 1} \right) \) beschrieben wird.

    Dann gilt \(A^{-1} = \left( \matrix{\frac{1}{2} & 0\cr 0 & 1} \right) \) und ebenso \((A^{-1})^{\text{T}} = \left( \matrix{\frac{1}{2} & 0\cr 0 & 1} \right) \).

    Als transformiertes Koordinaten-Tupel erhalten wir:

    \[ (A^{-1})^{\text{T}} \left(\matrix{3\cr 1} \right) = \left( \matrix{\frac{1}{2} & 0\cr 0 & 1} \right) \left(\matrix{3\cr 1} \right) = \left(\matrix{\frac{3}{2}\cr 1} \right) \]

    Die Koordinaten-Tupel, die den Vektor bezüglich der beiden Basen darstellen, haben eine unterschiedliche Länge:

    \[ \sqrt{\left (\frac{3}{2}\right )^2 + 1^2} \ne \sqrt{3^2 + 1^2} \]

    Der Vektor selbst hat gar keine Länge.

Ausblick

Die Argumentation in der älteren Sichtweise ist sicher weniger abstrakt, aber ist sie wirklich einfacher? Wären Sie auf die konkreten Basistransformationen bei der Bewertung der zweiten und dritten Aussage gekommen? Wie auch immer Ihre Antwort ausfällt, es ist wichtig, beide Sichtweisen zu kennen und zu verstehen, dass sie dasselbe beschreiben — halt nur anders.

Bei den strukturarmen Vektorräumen — außer addieren und Vielfache bilden kann man da nichts unternehmen — ist das vielleicht noch nicht so unmittelbar einleuchtend: Aber das Spiel wiederholt sich

Womit auch schon die nächsten Themen genannt wären.

Lessons learned

Durch die — explizite oder implizite — Wahl einer Basis stecken in den Koordinaten-Tupeln willkürliche Elemente.

Bei Eigenschaften eines Koordinaten-Tupels und Beziehungen zwischen Koordinaten-Tupeln muss man deshalb prüfen, ob sie eine absolute, das heißt basisunabhängige, willkürfreie Bedeutung haben. Oder, ob sie nur relativ zu einer Basis sinnvoll sind — weniger freundlich ausgedrückt: ob sie ein Artefakt der gewählten Darstellung sind.

Die absoluten Eigenschaften und Beziehungen der Koordinaten-Tupel sind invariant unter allen Basistransformationen.